Bieler Lauftage 2014
In diesem Jahr konnten wir leider erst am Freitag anreisen. Wie einige Jahre
davor auch schon, haben wir die Übernachtungen in Erlach gebucht. Auch dabei
mussten wir uns Umstellen. Unsere „Stammunterkunft” im Studio in der Töpferei
war leider schon vergeben. Also waren wir über der Drogerie untergebracht. An
der Tür zum Gästezimmer stand: „Hier übernachtete 1873 Goethe”.
Irgendwie konnte ich es nicht glauben. Zwar reiste Goethe durch die Schweiz,
als er auf dem Weg nach Italien war, aber ob er dann in Erlach übernachtete,
war uns nicht bekannt. Wie unsere Gastgeberin später bemerkte, war das ein
Joke ihres Vaters. Hätte ja sein können?
Das Zimmer war schön. Mit Terrasse zum Kräutergarten hin und ruhig.
Ich schlief etwas vor dem Lauf, während Dagmar den Hund Gassi führte und am
See spazieren ging.
Als ich dann nach Biel fuhr, war mir klar, dass ich beim Expo- Gelände parken würde.
Für mich war der Parkplatz leicht zu finden. Meine zehnte Teilnahme,
und langsam kenne ich mich in Biel gut aus. Dem netten Herrn, der den
Halbmarathon absolvieren wollte und neben mir parkte, erging es mit der
Anfahrt nicht so gut. Er beklagte sich, weil er so schlecht durch die Stadt kam.
Ich ging über den Bahnhof zum Kongresszentrum und holte mir locker und entspannt
meine Unterlagen. „Alles wie im letzten Jahr”, meinte die junge Dame am Infostand.
Für mich aber nicht.
Ich wollte unbedingt nach dem Lauf duschen, war aber sehr unentschlossen,
ob ich die Dusch- und die Wechselsachen in der Garderobe lassen sollte oder
nach dem Zieleinlauf noch einmal zum Auto zurück gehen sollte. Irgendwann entschied
ich mich dann dafür, den Kleiderbeutel in der Garderobe zu lassen. Die Wertsachen
kann man ja auch abgeben.
Gut.
Da war ich dann wieder am Kongresszentrum und hatte noch niemanden gesehen,
den ich kannte. Komisch. Sind die Ultras, die mir bekannt sind alle woanders?
Herr Sonntag schrieb doch: „Einmal musst Du nach Biel!” Also waren meine Bekannten
und Lauffreunde alle schon mindestens einmal hier beim 100 Km -Lauf in Biel oder
wollten es noch?
Ich saß da und grübelte. Was sollte ich bis zum Start machen?
Dagmar war in Erlach geblieben. Sie hatte nur wenig, nach ihrer
Nachtschicht im Auto geschlafen und wollte nicht mit nach Biel.
Warum auch? Ich bin doch erwachsen und brauche niemanden mehr, der
mir vor dem Start Mut zuspricht. Aber ich hatte Zeit und niemanden,
mit dem ich plaudern konnte, den ich kannte. Ich hatte zwar etwas
gegessen in Erlach, bekam aber so etwas,wie Hunger oder Appetit?
Im Zieleinlaufzelt gab es Kaffee und Nudeln und mehr. Ich sah mir
die Nudeln an und die Preisliste und hatte dann doch keine Appetit
mehr auf Nudeln. Am besten ich schaue mal, ob ich noch einen Bäcker
finde, der offen hat. Mir war nach einem trockenen Brötchen oder einem
Stück Kuchen oder so. Nein, Nudeln wollte ich nicht. Ich ging in Richtung
Innenstadt.
Inlinerrennen.
Toll, wie schnell die sind.
Zuschauer, Bratwustgrillstände, laute Musik, laute Menschen, ganze
Wolken mit den Bratwurstdünsten schwebten an meiner Nase vorbei.
Nein, eine Grillwurst wollte ich nicht!
Oh, der MC Donalds. Das grenzt an Verzweiflung. Ich denke über einen Besuch
in dem Schnellrestaurant MC Donald nach?
Ich fand keinen Bäckerladen mit einfachen Brötchen. Aber ich hatte ja die kleine
Packung Müsli, die es zu den Startunterlagen dazu gab. Das reichte mir dann doch.
Auch, weil ich mich dann nicht für eine Pizza entscheiden konnte. Dann saß ich
wieder am Kongresszentrum. Auch Bernhard sah ich dort. Ich sagte kurz „Guten Tag”.
Ich wollte noch etwas für mich sein. Irgendwie fühlte ich mich gerade etwas einsam
unter all den Menschen. Da saß ich und beobachtete die Läufer, deren Begleitungen:
Freunde und Fahradbegleitungen. Ein Läufer rieb sich überall mit Fett ein. Ich
schaute weg. Junge Läuferinnen, hübsche Gesichter, aufgeregte Läufer, reife
Läufer und Läuferinnen. Menschen mit Mütze, Wasserflaschen, Menschen mit
Bauch und Bier. Schlangen an den Toiletten.
Einsam am Kongresszentrum.
Bestimmt wird meine zehnte Teilnahme die letzte
sein. Bestimmt! Was soll ich hier. Ich kenne das alles hier. Die Organisation
schien mir nicht mehr so gut wie all die Jahre davor. Ja, man kann es nicht mit
dem Eisstadion vergleichen. Und die letzten 10 Km sind auch nicht mehr so schön,
wie damals, als wir noch durch Pieterlen liefen. Die Nudeln sind teuer und verkocht,
man kann nicht mehr direkt zur Startnummernausgabe gehen, sondern wird zwangsweise
durch die Aussteller von Laufschuhen und Laufsachen und was weiß ich geleitet. Der
direkte Weg ist verstellt. Irgendwie alles nicht mehr so schön!
Quatsch!
Die Bieler Lauftage im Wandel der Zeit. Mehr nicht! Was ist dabei? Die Strecke
musste wegen dem Start und dem Ziel geändert werden. Na und? Die Preise sind gestiegen,
wie in anderen Bereichen auch. Das ist eben so und geht bestimmt auch nicht anders. Wie
kann man so eine Veranstaltung sonst halten? Die Bieler Lauftage standen ja schon einmal
kurz vor dem Aus! Also muss man den Läuferausrüstern auch versprechen, die potentiellen
Kunden an den Ständen „vorbeizutreiben”!
Dann verflogen die negativen Gedanken. Ja, ich will hier starten.
Und im nächsten Jahr bin ich bestimmt wieder dabei. Es ist ein Geschenk,
wenn man so etwas machen kann!
Mir gegenüber ein Pärchen aus dem Seeland, Schweizer also. Sie laufen zum
dritten Mal hier in Biel den 100 Km Lauf. Sie amüsiert sich über die Art und Weise,
wie ich die Startnummer am T-Shirt „Flussläufer” befestigt hatte. Ich benutzte etwa
zehn Sicherheitsnadel. Sie fragte etwas und ich verstand nichts. Sie fragte, ob ich
französisch spreche. Ich verzog mein Gesicht und drückte aus, dass ich sie nicht
verstand. Ich sagte, in ihre Resignation herein: „Deutsch!”. Irgendwie war sie
doch beleidigt, da sie mich ja in Schwitzer Dütsch angesprochen hatte. Ich lächelte
sie an und meinte, ich verstände den Dialekt schlecht. Dann war ihr leichter Ärger
verflogen, und wir unterhielten uns etwas. Ich kannte Bligg und Baschi. Schweizer Musiker. Sie
kannte die auch! Die junge Läuferin knotete sich eine Regenfolie an den Laufgürtel,
was ich übertrieben fand. Die Nacht würde ja trocken bleiben!
Am Start.
Noch wenige Minuten.
Hatte ich noch eine Stunde vorher über die Veranstaltung so negativ nachgedacht, so
war ich jetzt voller Mut und mir war sehr gut. Ich wollte es! Und ich wollte unter
dreizehn Stunden laufen.
Alles war gut und es ging los.
In der Stadt war es warm. Der Schweiß lief mir über die Stirn und den Rücken herunter.
Ich sah die junge Schweizerin wieder und überholte endlich, als sich das erste Wuhling
etwas gelockert hatte. Keine Ahnung, warum sich langsame Läufer und Geher in die ersten
Reihen an den Start stellten. Wollten sie es genießen, die schnelleren Läufer zu behindern?
Vorsicht: Nordik-Walking-Stöcke!
Dann Nidau. Ich war gut in meinen Laufrhythmus gekommen. Einige Zuschauer in Biel,
viele feierten, die Nacht war schön und die Läufer schlängelten sich durch die Stadt.
Dann ging es hoch nach Jens. Ich lief fast die ganze Zeit. Irgendwie musste ich etwas
bremsen. Ich war schnell. Der Blick auf den See, die fernen Lichter am anderen Ufer.
Herrlich, hier zu laufen!
Schnell herunter nach Jens. Toll. Die Nacht war toll. Der Mond bedeckte sich nur
noch wenig mit Wolken. Vollmond. Ich sah Sterne. Ab und an ein leises Lüftchen,
dass etwas Kühlung brachte. Oh, Kappelen, plötzlich schon der Lauf über die Brücke
hinein nach Aarberg, über den Markt und durch die gewohnte Menschenmenge, die uns
feierte. Ich war schnell.
Hinter Lyss. „Bist Du der Jörg Segger?” Ja, ich bin der Jörg. Ulli erkannte mich.
Er hatte mir vor Jahren mal wegen einem Laufbericht über die Bieler Veranstaltung
eine aufmunternde E-Mail geschickt und verfolgt noch immer meine Berichte auf
meiner Internetseite. Wir überholten uns in dieser Nacht noch mehrfach. Er
meinte auch einmal, ich wäre auf einem Kurs, der am Ende bei einer Zeit von 12:30 h
enden müsste. Ach Ulli: keine Angst, ich werde bestimmt noch langsamer! Ich fühlte
mich gut und berechnete meine Endzeit. Unter 13h war mein Ziel!
Von Scheunenberg , Km 30, bis zum Marathonziel geht es ziemlich geradeaus.
Ich genieße die Nacht. Alles wunderbar und ich bin schnell. Ich will bei 4:20 h im
Marathonziel sein und bin es nach 4:16 h. Klasse!
Hier gehe ich erst einmal. Wie immer. Nach etwa 400 Meter laufe ich langsam wieder an.
Toll.
Mülchi.
Immer noch gut. Dann kommt Etzelkofen. Die Radbegleitungen
stören in diesem Jahr nicht. Alle passen sehr gut auf. Ich überhole
und werde plötzlich doch langsamer. Der Mond leuchtet. Bisher habe ich
die Stirnlampe noch nicht gebraucht. Plötzlich bricht meine Kraft weg.
Da ist sie also, die erste Schwächephase. Na und? Ich kenne das. Das geht
vorbei. Ich wandere etwas und schaue in die Nacht, zum Mond und suche die Sterne.
Die Nacht ist schön, ich habe keine Schmerzen und bin gerade etwas schwach.
Dann kann ich wieder laufen. Bin ich zu langsam, so gehe ich, bis es wieder läuft.
Ich komme langsam vorwärts.
Gut!
Streckenabschnitte erkenne ich wieder. Fast die gesamte Strecke habe ich wiedererkannt.
Nur wenige Abschnitte, die ich so nicht kannte, weil ich, bei den Läufen davor Aussetzer
hatte. Wenn man mit sich kämpft, vergisst man, auf die Strecke zu schauen. So entdeckt man
bei mehrmaliger Teilnahme immer wieder neue Abschnitte. Auch gut. Da ist es also: Das
Schild mit der „50” drauf. Nein, nur die Stecke teilt sich hier. Es ist nicht die halbe
„Miete”!
Da gehört mehr zu. Nach meiner Erfahrung hat man bei Km 70 erst die „Hälfte” der 100 Km
hinter sich!
Der Verpflegungspunkt in Kirchberg ist wegen Neubauten am Sportplatz verlegt.
Kein Problem.
Längst laufe ich schon wieder, seit fünf oder sechs Kilometer richtig rund. Klasse.
Mir macht das Laufen Spaß. So war es viele Jahre schon nicht mehr. Ich habe überhaupt keine Probleme!
Unterwegs versorge ich mich mit Tee und Wasser. Ich habe eine Halbliterflasche dabei, die ich an den
Versorgungsständen auffülle. Ich trinke unterwegs und ausreichend an den Versorgungsstellen.
Meine Nahrung besteht aus Gel und Apfelsinen. Ich vertrage alles sehr gut in dieser Nacht.
Sonst konnte ich immer nichts essen. Also ist die Versorgung auch sehr gut. Mir geht es gut!
Der Emmendamm hat schon längst seinen Schrecken verloren. Es ist auch schon fast hell,
und ich stolpere nur einmal und gehe zeitweise. Ich liege gut in der Zeit und kann es
mir leisten zu wandern. Gut, wenn es über dreizehn Stunden am Ende werden, ist auch nicht
schlimm.
Ich unterhalte mich etwas mit einem Läufer, der zum ersten Mal dabei ist,
da sind wir schon vor Gerlafingen. Ich rechne ihm plötzlich vor,
dass, wenn man immer fünf Kilometer bis zum Ziel in etwa vierzig Minuten
laufen würde, unter dreizehn Stunden ankommen müsste. Wie? Ja!
Ach so? Ich realisiere es und kann plötzlich richtig gut und flüssig laufen.
Mein Kopf ist frei und ich bin plötzlich am Schild mit „75 km” darauf. Ich liege
auf einem Kurs unter dreizehn Stunden. Fantastisch. Mehr wollte ich doch nicht.
Die Nacht brachte nur wenig Abkühlung und die Sonne ist an dem Morgen nicht mehr
ganz so giftig wie am Tag davor.
Als ich in der Nacht an Kirschbäumen in Netzen vorbeikam, malte ich mir aus, wie
es wäre, könnte ich frische Kirschen pflücken und essen. Dann kamen wir auch an
Kirschbäumen ohne Netze vorbei. Allerdings gab es einen Elektrozaun dadrum herum.
Ich könnte es schaffen, darüber zu springen, in den Baum zu klettern
und mich an den frischen Kirschen zu laben. Würde der Besitzer kommen,
so könnte ich ja rufen: „Ich bin ein Star, hol mich hier raus!”
Nach Arch, den Berg hoch. Eine nette Velofahrin auf einem Elektrorad. Auch so!
Runter nach Arch. Es geht gut. In den Jahren davor ging es mir hier noch nie besser.
Ich kann richtig gut laufen. Bald laufen wir am Nidau-Büren-Kanal entlang.
In Büren wieder Zuschauer. Wir ernten Anerkennung. Es läuft gut. Ich kenne
ja die Strecke. Bald laufen wir bei Orpund am Kanal entlang. Kühe, Radfahrer,
der Kanal, Läufer und schönes Wetter.
Meine Berechnungen stimmen.
Ich bin in der Zeit! Dann sind wir in Biel. Die Strecke schlängelt sich verwirrend durch Biel.
Endlich die Zielgerade. Ich gebe Gas. Ja ich kann ganz locker laufen und bin richtig schnell.
Als ich durch das Ziel laufe, habe ich eine Endzeit von 12:57:20 h.
Ich bin mächtig stolz darauf, dass meine Zeit so gut ist.
Zwei Erdinger bitte! Alkoholfreies Bier. Das erste Halbe geht
runter und löscht den ersten großen Durst. Ich setze mich am Zieleinlauf
auf die Treppe unterm Kongresszentrum und eine nette Schweizerin gesellt
sich zu mir.
Sie fragt mich nach meinem Erlebnis und ist neidisch,
weil sie zur Zeit nicht laufen kann. Sie will schwimmen
gehen. Als ehemalige Leistungssportlerin kann sie meinen Stolz
verstehen. Wir philosophieren darüber, wie schön es doch ist, wenn man an
so einer Veranstaltung teilnehmen kann. Sie ist Krankenschwester.
Dann verabschieden wir uns. Ich hole meine Medaillen ab und dusche.
Alles ist gut und ich trage die goldene Medaille für die 10. Teilnahme und
auch die andere Medaille gemeinsam um den Hals. Unterwegs lächeln mich die
Leute an oder heben anerkennend den Daumen. Jedenfalls die meisten.
Am Parkplatz werde ich wegen der Teilnahme beneidet, weil der Herr
an der Kasse zum Parkplatz leider in diesem Jahr nicht starten konnte.
Die Rückfahrt nach Erlach geht gut.
Ich schlafe etwas und am Abend gehen wir an den See und Essen. Wunderbar.
Am anderen Morgen trinken wir am See Kaffee und gehen in unsere Bucht, um dort
zu frühstücken. Frühstück am See. Herrlich. Der kräftige Wind treibt
Wellen in die kleine Bucht. Wunderbar. Dagmar geht baden.
Nach einiger Zeit gehen wir zurück, packen und fahren nach Straßburg.
// © Jörg Segger/ 18.06.2014//
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